Die vergessene Epidemie: World Snakebite Awareness Day und die globale Last der Schlangenbisse

1. World Snakebite Awareness Day – Ein Brennpunkt für eine vernachlässigte Krankheit

Der 19. September steht im Zeichen des Internationalen Schlangenbiss-Aktionstags (ISBAD), der 2018 ins Leben gerufen wurde, um die Aufmerksamkeit auf eine der größten und am stärksten vernachlässigten Gesundheitskrisen weltweit zu lenken. Der Aktionstag ist ein Aufruf, verbreitete Mythen und Missverständnisse über Schlangen zu entkräften und die oft übersehene humanitäre Katastrophe zu beleuchten, die Schlangenbisse in ländlichen Gemeinschaften verursachen. Die globale Dimension dieser Krise veranlasste die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 2018, die Schlangenbissvergiftung (Snakebite Envenoming) auf die Liste der vernachlässigten Tropenkrankheiten (NTDs) der Kategorie A zu setzen. Diese formelle Anerkennung war ein entscheidender Schritt, um eine koordinierte globale Antwort zu ermöglichen und die notwendige politische Aufmerksamkeit und finanzielle Unterstützung zu mobilisieren.
Die Tragödie der Schlangenbisse liegt nicht allein in ihrer Häufigkeit oder potenziellen Tödlichkeit, sondern auch in der paradoxen Unsichtbarkeit der Krise. Während Tausende von Menschen sterben und Hunderttausende bleibende Schäden davontragen, bleibt das Problem im Schatten anderer globaler Gesundheitsgefahren. Die Diskrepanz zwischen der fatalen globalen Belastung und der mangelnden Datenerfassung ist ein zentraler Faktor, der die Krise zu einer „vergessenen“ Epidemie macht. Die Betroffenen leben überwiegend in den ärmsten, ländlichsten Regionen, wo medizinische Infrastrukturen schwach ausgeprägt sind und die Registrierung von Krankheitsfällen kaum oder gar nicht stattfindet. Viele Opfer erreichen nie ein Krankenhaus und sterben, ohne dass ihr Fall in nationalen oder internationalen Statistiken erfasst wird. Dies führt zu erheblicher Untererfassung und zu einem breiten Spektrum an Schätzungen für die tatsächliche Belastung. Die WHO schätzt die Zahl der Todesfälle auf 81.000 bis 138.000 pro Jahr, während ältere Literatur von 20.000 bis 94.000 Toten ausgeht und andere Quellen von über 100.000. Diese massive Unsicherheit erschwert nicht nur die zielgerichtete Zuweisung von Geldern und die Entwicklung maßgeschneiderter Interventionsstrategien, sondern trägt auch zur Legitimation der Vernachlässigung der Krankheit bei.

2. Epidemiologie und sozioökonomische Folgen im Globalen Süden

Die globalen Schätzungen zeichnen ein Bild von enormem Leid. Jährlich werden schätzungsweise 5,4 Millionen Menschen von Schlangen gebissen, wovon 2,7 Millionen eine Vergiftung erleiden. Dies führt zu 81.000 bis 138.000 Todesfällen und 400.000 dauerhaften Behinderungen, darunter Amputationen. Der Großteil dieser Fälle ist geografisch konzentriert, wobei die höchste Krankheitslast in Südasien, Südostasien und Subsahara-Afrika zu verzeichnen ist. In Asien allein werden bis zu 2 Millionen Menschen vergiftet, in Afrika sind es jährlich zwischen 435.000 und 580.000 Fälle, die eine Behandlung erfordern.
Die Schlangenbissvergiftung ist primär eine Krankheit der Armut. Die Opfer sind in der Regel die ärmsten und am meisten marginalisierten Mitglieder der Gesellschaft, darunter Landwirte, Hirten und Landarbeiter, die in ländlichen Gebieten leben, in denen Schlangen häufig vorkommen und der Zugang zu medizinischer Versorgung minimal ist. Kinder sind aufgrund ihres geringeren Körpergewichts besonders gefährdet, da die Giftmenge in Relation zu ihrer Körpermasse wesentlich höher ist, was zu schwereren Vergiftungserscheinungen führt. Auch schwangere Frauen sind einer erhöhten Gefahr ausgesetzt, da Schlangengifte die Plazentafunktion beeinträchtigen und verstärkte Blutungen verursachen können.
Die Folgen eines Schlangenbisses sind oft verheerender als die unmittelbare körperliche Verletzung. Sie sind nicht nur ein medizinisches, sondern ein tiefgreifendes sozioökonomisches Problem. Die hohen Behandlungskosten sind für die betroffenen Familien, die oft kaum über finanzielle Rücklagen verfügen, untragbar und können sie in den finanziellen Ruin treiben. In einigen Regionen, wie dem Südsudan, übersteigen die Kosten für ein hochwertiges Gegengift ein Vielfaches des Jahreseinkommens eines Bauern. Selbst wenn Überlebende medizinische Hilfe erhalten, leiden sie oft an dauerhaften Behinderungen wie eingeschränkter Motorik, Nervenschäden, Amputationen oder Gewebeverlust. Diese physischen Einschränkungen bedeuten für die Betroffenen, dass sie nicht mehr in der Lage sind, ihre Arbeit zu verrichten, was ihre Familien tiefer in die Armut stürzt. Darüber hinaus sind Amputationen und Entstellungen mit sozialer Stigmatisierung und Diskriminierung verbunden, die Überlebende vom gesellschaftlichen Leben ausschließen. Die Krankheit perpetuiert auf diese Weise die soziale Ungleichheit und verstärkt einen Teufelskreis aus Krankheit und Armut.

3. Die systemischen Herausforderungen der medizinischen Versorgung

Die gravierenden Folgen von Schlangenbissen werden durch ein fundamental gestörtes globales Gesundheitssystem verstärkt. Die weltweite Antivenin-Krise ist ein Paradebeispiel für ein umfassendes Marktversagen, bei dem die Profitlogik über die Dringlichkeit der öffentlichen Gesundheit gestellt wird. Die Herstellung von Antiveninen ist ein aufwendiger und kostspieliger Prozess, der die Immunisierung großer Säugetiere wie Pferde oder Schafe mit Schlangengift erfordert, um die notwendigen Antikörper zu gewinnen. Gleichzeitig ist die Hauptzielgruppe, die in armen, ländlichen Regionen lebt, nicht zahlungskräftig. Dies führt zu einer geringen Nachfrage bei hohen Produktionskosten und macht den Markt für große Pharmaunternehmen unrentabel.
Dieser Mangel an wirtschaftlichen Anreizen hat dazu geführt, dass sich große Hersteller aus dem Markt zurückziehen. Ein prominentes Beispiel ist die französische Firma Sanofi-Pasteur, die die Produktion ihres effektiven polyvalenten Antiserums Fav-Afrique 2014 einstellte. Die Firma begründete diesen Schritt mit dem Wettbewerb durch billigere Produkte, ließ aber eine fatale Versorgungslücke in Subsahara-Afrika zurück, die bis heute nicht vollständig geschlossen werden konnte.
Die Konsequenzen dieses Marktversagens sind weitreichend und tragisch. Um die Lücke zu füllen, wurden Märkte mit billigen, aber oft unwirksamen Produkten aus Asien überschwemmt. Diese Antivenine sind oft nicht spezifisch für die Schlangenarten der jeweiligen Region, was ihre Wirksamkeit stark einschränkt. Das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber medizinischer Behandlung ist eine direkte Folge dieser mangelnden Qualität. Menschen, die minderwertige Produkte erhalten und keine Heilung erfahren, verlieren das Vertrauen in die moderne Medizin und wenden sich stattdessen an traditionelle Heiler. Dieses Verhalten verschlechtert die Behandlungschancen der Opfer dramatisch, da die lebensrettende Zeit vergeht, und verstärkt den Teufelskreis des Marktversagens: Die schwindende Nachfrage nach legitimen Produkten macht den Markt noch unrentabler und verhindert Investitionen in die Entwicklung und Produktion neuer, effektiver Antivenine.
Zusätzlich zu diesen Marktdynamiken werden die Bemühungen zur Bekämpfung von Schlangenbissen durch grundlegende infrastrukturelle und logistische Defizite behindert. In abgelegenen ländlichen Gebieten fehlen geeignete Transportnetze, und die notwendige Kühlkette für Antivenine kann nicht gewährleistet werden, was die rechtzeitige Verabreichung der Medikamente erschwert. Darüber hinaus gibt es einen eklatanten Mangel an qualifiziertem medizinischem Personal, das in der Diagnose und Behandlung von Vergiftungen geschult ist, da dieses Fachwissen oft nicht Teil der Standardausbildung ist.

4. Strategien zur Bewältigung: Globale Anstrengungen und gemeinschaftliche Ansätze

Als Reaktion auf die Antivenin-Krise hat die WHO eine umfassende Strategie entwickelt, die darauf abzielt, die Todesfälle und Behinderungen durch Schlangenbisse bis 2030 um 50% zu reduzieren. Diese Strategie basiert auf vier strategischen Säulen: die Befähigung und Einbindung von Gemeinschaften, die Gewährleistung einer sicheren und effektiven Behandlung, die Stärkung der Gesundheitssysteme sowie die Förderung von Partnerschaften, Koordination und Ressourcen.
Ein zentraler Bestandteil dieser Bemühungen ist die Anerkennung der entscheidenden Rolle von Community-Engagement bei der Prävention und Erstversorgung. Das Snakebite Community Engagement Network (SCEN), eine Initiative von Health Action International, stärkt lokale Experten in Ländern mit geringem und mittlerem Einkommen (LMICs). Mitglieder des Netzwerks führen erfolgreiche Projekte durch, die auf lokale Gegebenheiten zugeschnitten sind. Ein herausragendes Beispiel ist die Arbeit von Priyanka Kadam in Indien, die die Snakebite Healing & Education Society (SHE-INDIA.ORG) gründete. Ihre Organisation hat Aufklärungsmaterialien in 14 regionalen Sprachen erstellt und war maßgeblich an der Entwicklung der „Snakebite Assistant App“ beteiligt.
Die Entwicklung digitaler Lösungen wie dieser App bietet großes Potenzial. Als Lernwerkzeug für medizinisches Fachpersonal, aber auch für Laien, bietet die App Anleitungen zur Prävention, Erste Hilfe und zur Behandlung von Schlangenbissen. Studien belegen, dass digitale Gesundheitsanwendungen zur Reduzierung der Sterblichkeit beitragen können, indem sie den Zugang zu Informationen und Notfallunterstützung verbessern. Jedoch verdeutlicht eine genaue Analyse, dass die Skalierbarkeit dieser Lösungen von grundlegenden infrastrukturellen Anpassungen abhängt. In ländlichen Gebieten wird die Usability der Apps durch die Abhängigkeit von Internetzugang und die fehlende Integration lokaler Dialekte stark eingeschränkt. Fast 40% der ländlichen Nutzer sind durch fehlendes Internet gehindert, und 65% berichten von Missverständnissen aufgrund von Sprachbarrieren. Die wirksame und breite Anwendung digitaler Hilfsmittel setzt daher eine grundlegende Stärkung der Infrastruktur voraus, um die Ungleichheit in der Gesundheitsversorgung nicht weiter zu verschärfen.

5. Risikomanagement für europäische Reisende

Obwohl das Risiko, von einer Schlange gebissen zu werden, für europäische Reisende im Vergleich zur lokalen Bevölkerung gering ist, besteht es dennoch, insbesondere bei Outdoor-Aktivitäten in beliebten Reisezielen in Südostasien und Lateinamerika. Das beste Risikomanagement beginnt mit der Prävention. Reisende sollten sich im Vorfeld über die lokale Tierwelt und Gefahren informieren. Um Bisse zu vermeiden, wird empfohlen, festes, knöchelhohes Schuhwerk und lange Hosen zu tragen, nachts Taschenlampen zu benutzen und Schlangen nicht zu bedrängen oder zu berühren, auch keine bereits toten Tiere, da Reflexe noch lange vorhanden sein können.
Sollte es dennoch zu einem Biss kommen, ist eine klare Kenntnis der richtigen Erste-Hilfe-Maßnahmen lebensentscheidend. Die häufigsten in der populären Vorstellung verankerten „Erste-Hilfe-Tipps“ sind nicht nur unwirksam, sondern lebensgefährlich. Traditionelle Maßnahmen wie das Aussaugen oder Ausschneiden der Wunde, das Anlegen eines Abbindeverbandes oder das Kühlen mit Eis können Gewebeschäden, Blutungen und Infektionen verschlimmern und die Ausbreitung des Giftes beschleunigen.

Schlangenbiss-Erste Hilfe: Was zu tun und was zu vermeiden ist

Was zu tun ist
  1. Ruhe bewahren und die gebissene Person beruhigen
  2. Den gebissenen Körperteil ruhigstellen (immobilisieren)
  3. Enge Gegenstände (Ringe, Uhren) entfernen
  4. Die Wunde reinigen und steril abdecken
  5. Umgehend professionelle medizinische Hilfe suchen
  6. Die Schlange aus sicherer Entfernung fotografieren
Was zu vermeiden ist
  1. Die Wunde aussaugen, ausschneiden oder auspressen
  2. Einen Abbindeverband (Aderpresse) anlegen
  3. Die Wunde mit Eis kühlen oder ins Wasser tauchen
  4. Alkoholische oder koffeinhaltige Getränke konsumieren
  5. Schmerzmittel ohne ärztliche Anweisung einnehmen
  6. die Schlange zu fangen oder zu töten

Die Mitnahme einer sorgfältig zusammengestellten Reiseapotheke, die Notfallmedikamente und ein sogenanntes Schlangenbiss-Set umfasst, kann sinnvoll sein. Es muss jedoch klargestellt werden, dass ein solches Set keinesfalls zur Selbstverabreichung von Antivenin gedacht ist. Die Anwendung eines Antivenins ist eine komplexe medizinische Behandlung, die nur von geschultem Fachpersonal in einem adäquaten Krankenhaus durchgeführt werden sollte.

6. Die Rolle und Verantwortung global agierender Unternehmen

Globale Unternehmen, die in Schlangenbiss-Risikogebieten tätig sind, sei es im Rohstoffsektor, in der Landwirtschaft oder im Tourismus, tragen eine erhebliche Verantwortung für die Gesundheit und Sicherheit ihrer Mitarbeiter. Diese Fürsorgepflicht gilt nicht nur für entsandte Expatriates, sondern auch für die lokale Arbeitsbevölkerung. Unternehmen müssen in umfassende Risikobewertungen, Präventionsschulungen und in die Gewährleistung eines schnellen und adäquaten Zugangs zu medizinischer Versorgung investieren.
Die Krise der Schlangenbisse macht zudem die Notwendigkeit eines ethischen Lieferkettenmanagements deutlich. Die Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, die oft am Anfang der Lieferketten multinationaler Konzerne stehen, sind am stärksten gefährdet. Unternehmen sollten sich dieser Risiken bewusst sein und Massnahmen ergreifen, um die Sicherheit der Arbeiter zu gewährleisten und nicht nur auf Profitabilität zu achten.
Der Rückzug von Sanofi-Pasteur aus dem Antivenin-Markt ist ein Lehrstück über unternehmerische Verantwortung und ethische Dilemmata. Das Unternehmen begründete seine Entscheidung mit dem fehlenden wirtschaftlichen Anreiz, obwohl sein Produkt Fav-Afrique als einziges wirksames, polyvalentes Antivenin für Subsahara-Afrika galt. Dieser Rückzug schuf eine massive Lücke in der Versorgung und signalisierte, dass der Markt allein nicht in der Lage ist, dieses globale Gesundheitsproblem zu lösen. Die fehlende Rentabilität von lebenswichtigen, aber selten genutzten Medikamenten verdeutlicht die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in der Pharmaindustrie. Um Marktversagen zu verhindern, müssen Public-Private-Partnerships oder andere innovative Finanzierungsmodelle gefördert werden, die die Produktion und Verfügbarkeit von Antiveninen gewährleisten. Die wachsende öffentliche Erwartung an die soziale Rechenschaftspflicht von Pharmaunternehmen wird durch Fälle wie die Opioid-Krise in den USA unterstrichen, in der Unternehmen und ihre Eigentümer (Purdue Pharma, Sackler-Familie) wegen ihrer Rolle in der Katastrophe zur Rechenschaft gezogen wurden. Diese Parallelen zeigen, dass die Gesellschaft zunehmend erwartet, dass Unternehmen die Konsequenzen ihres Handelns oder ihrer Untätigkeit tragen.

7. Schlussbetrachtung: Ein Appell zum Handeln

Die globale Krise der Schlangenbisse ist keine unvermeidbare Naturkatastrophe, sondern eine von Menschenhand geschaffene, vernachlässigte Katastrophe. Sie ist die Folge von Marktversagen, unzureichenden Gesundheitssystemen und fehlendem politischen Willen. Der World Snakebite Awareness Day ist mehr als nur ein Gedenktag; er ist ein jährlicher, dringender Appell, die Aufmerksamkeit der Weltgemeinschaft auf dieses oft vergessene Leid zu lenken.
Die Lösung erfordert ein gemeinsames, koordiniertes Vorgehen. Die WHO-Strategie 2030 bietet einen klaren Fahrplan, der Regierungen, NGOs, Forscher, die Pharmaindustrie, Logistikunternehmen und die Zivilgesellschaft zusammenbringen soll. Nur durch die Überwindung des Marktversagens, die Stärkung der lokalen Gesundheitssysteme und die Bereitstellung von sicheren, effektiven und erschwinglichen Antiveninen kann der Teufelskreis aus Krankheit und Armut durchbrochen werden. Nachhaltige Investitionen in Prävention, Forschung und Infrastruktur sind der Schlüssel, um die Schlangenbissvergiftungen endgültig aus dem Schatten der vernachlässigten Krankheiten zu holen und das Leiden der ärmsten und am stärksten gefährdeten Menschen der Welt zu beenden.

Quellen

Weltgesundheitsorganisation WHO

Snakebiteawarenessday